Marie erfindet sich neu

Meine Damen und Herren,

 

In Berlin muß sich Marie neu definieren, um ihren Platz zu finden. Mal sehen was in ihrem nächsten Brief steht. Er ist vom Mai 1920.

 

Liebe Schwester,

 

ich mache Fortschritte, mich neu zu erfinden. Obwohl Mutter es mir immer verboten hat, mir einen Bubikopf zu schneiden, habe ich jetzt meinen ganzen Mut zusammengenommen und mir die Haare kurz schneiden lassen. Ich habe jetzt ein ganz freies und leichtes Gefühl mit den knappen Haaren und keine Kopfschmerzen mehr von Knoten, Zöpfen und Haarnadeln. Ich schaue mich gerne mit meiner neuen Pracht im Spiegel an.

 

An dieser Stelle will ich den Brief verlassen, damit uns Frau ... das Lied "Jede Gnädige, jede Ledige trägt den Bubikopf" vortragen kann.

 

Nach diesem tollen Song fahre ich mit dem Brief fort:

 

Auch meine Kleidung muß ich Stück für Stück durch neue ersetzen. In der Großstadt kleidet man sich anders als in Treuenbrietzen. Meine Röcke kürze ich bis knapp übers Knie und habe ein erstes neues freches  Kleid im Stil der Zeit erstanden, das meine Figur umschmeichelt. Auch von dem einengendem Korsett habe ich mich getrennt.

 

Ich freue mich Dir berichten zu können, dass ich eine gute Schule für den Revuetanz gefunden habe. Dort kann ich meine bereits erworbenen Kenntnisse vervollständigen. Bald will ich mit Bewerbungen starten, um mich auch finanziell auf eigene Füße stellen zu können.

 

Insgesamt bin ich ganz stolz auf mich. Ich habe ein gutes Gefühl in der quirligen Großstadt zu überleben.

Grüße alle recht herzlich von mir.

 

Deine Schwester Marie

 

Man sieht, daß die Frauen das Rollenbild der Wilhelminischen Zeit verlassen. Dazu trägt uns Frau ... noch einmal vor und zwar "Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will".

 

Nachrichtlich die Texte der Lieder:

 

1. "Jede Gnädige, jede Ledige trägt den Bubikopf" (1. Strophe)

 

Ja die Männer, die sind zu beneiden,

denn die Frau'n sind ja heut' so bescheiden;

keine will was vom Mann, keine schafft sich was an,

jede hilft ihm Spar'n wo sie kann.

Keine sehnt sich nach Autos und Villen,

ihre Wünsche sind leicht zu erfüllen,

sie leisten gern auf alles Verzicht,

nur grad' auf das Eine nicht.

 

Jede Gnädige, jede Ledige trägt den Bubikopf so gern,

denn es ist heut' hochmodern, man läßt die Haare hinten scheer'n.

Onduliert, schamponiert, und ein bißchen wegrasiert;

um die Ohr'n kurz geschor'n und die Ponnylocken vorn.

Jede Gnädige, jede Ledige trägt den Bubikopf so gern,

weil's bequem, angenehm und modern.

 

2. "Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will" aus der gleichnamigen Operette von Oscar Straus

 

Mein Herr, Sie wollen ein Interview,

also bitte notieren Sie, hören Sie zu:

Ich zeig' Ihnen gerne meine Valeurs

und all' meine seelischen Interieurs.

Sie werden von mir jetzt informiert,

und was das Publikum interessiert,

das melden Sie Ihrem Leserkreis,

ich sag' Ihnen alles, was ich von mir weiß:

 

Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will,

ich habe mein Tempo, ich hab meinen Stil,

ich hab' meine Hemmungen fest in der Hand,

ein bißchen Gefühl, ein bißchen Verstand.

Ich kenn' meine Grenzen, ich höre die Zeit,

die Stimme des Tages, da weiß ich Bescheid.

Volant in der Hand, g'rad' los auf mein Ziel,

ich weiß ganz genau, was ich will!

Ich liebe die Liebe, ich liebe den Sport,

doch den Sport nicht als Liebe, die Lieb' nicht als Sport.

Ich bin nicht grad' prüde, doch auch nicht lassiv,

nicht zu oberflächlich, doch auch nicht zu tief.

Ich spiele gern Poker und manchesmal Bridge,

ich hasse den Snob und goutier' keinen Kitsch.

Bin manchmal sehr kühl, dann wieder verliebt,

so wie es die Situation grad' ergibt.

Ich bin eine Frau, die weiß, was sie will,

ich habe mein Tempo, ich hab' meinen Stil,

ich weiß, wie man Golf spielt und wie man chauffiert,

ich bin nicht zu sachlich, nicht zu kompliziert.

Ich liebe das Helle, das Schöne, die Kraft,

ich liebe das Geld, weil es Freiheit mir schafft,

verlang' von der Welt, von mir selber gar viel,

ich weiß ganz genau, was ich will.